UNTERFÜTTERUNG 2014

 

Es lebe die Biederkeit, die sich nichts vorwerfen lassen muss. Der heutige Biedermann zeichnet grüne, dicke, selbstbewusste Pfeile, Öko-Systeme, schützt Schweizer Vögel, besteigt das Rad nach einem anstrengenden Arbeitstag. Vor allem aber kennt er sich aus mit Zahlen, rettet die Welt in Prozenten. Grassierender Zahlenwahn. 

Kann man sich eine Politik ohne Zahlen vorstellen, ohne Statistik? Kaum. Zahlen bedeuten klare, unsentimentale Lösungen, beziffern eine vertrauenserweckende Gefühllosigkeit: «Die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz darf infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen.» Dieser mit Zahlen gespickte Satz wird als «Art. 73a Bevölkerungszahl» Teil der Bundesverfassung, falls die Ecopop Initiative angenommen wird. Gedankliche Vorbedingung dieser Initiative ist die Reduzierung der Zahl zur Anzahl. 

«Wir berufen uns auf wissenschaftliche Befunde, auf Zahlen. Das erlaubt uns, unbefangen an die Sache heranzugehen», so Ecopop-Initiant Benno Büeler. Seine Mitstreiter, Valentin Oehen, Ruedi Aeschbacher, Philippe Roch, Christoph Binswanger, sie alle haben offenbar nach einem jahrelangen Reifeprozess «unbefangen» diese Zahlen eruiert, die richtige Prozentzahl, mit der die «ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung» wachsen darf. 

Ich bleibe hängen, an diesen Sätzen, im Gestrüpp ihrer verqueren Zahlen-Bezüge, in ihrer buchhalterischen Positivität. Die Initianten wissen offensichtlich, wann man hierzulande vollzählig ist, man kennt also die angemessene Anzahl Menschen, die in der Schweiz leben kann, ohne die «natürlichen Lebensgrundlagen» zu gefährden; die erwünschte Bevölkerung ist die Bezugsgrösse dieser Zahl. 

Die logische Gefährdung, die sich aus diesem System von Zahl, Anzahl, Prozentzahl ergibt, ist die «falsche» Überzahl: «Stopp der Überbevölkerung» steht im Untertitel der Initiative - in diesem Kontext sind negative Assoziationen zur Stelle, das lästige Überbein, beispielsweise. Ein nett formulierter Brief hält sich krampfhaft ans Positive, gerade dann, wenn er eigentlich Negatives meint. Die höflich, pseudo-wissenschaftliche Botschaft von Ecopop lautet, dass die Überbevölkerung von der Zuwanderung verursacht wird. Frage: Was wäre, wenn die «ständige Wohnbevölkerung der Schweiz» sich plötzlich überdurchschnittlich vermehren würde? Würde Ecopop eine Initiative lancieren, fordern, dass sich die Nachkommenschaft auf ein Kind pro Familie beschränken müsse?

Das Operieren mit nackten Zahlen, statt mit emotional aufgeladenen Begriffen, macht den Anschein, dass Ecopop eine solide Vereinigung von besorgten Bürgerinnen und Bürgern ist, die mit dem populistischen Diskurs nichts zu tun hat. Der Schein trügt; der Populismus lebt nicht nur vom Scharfmacher, sondern auch vom Biedermann, der sich so genannter wissenschaftlicher Zahlen bedient, um die (eigene) Welt in Prozenten zu retten. Dabei müssen die Scharfmacher-Begriffe nicht mehr genannt werden, die clevere (politische) Werbung operiert schon längstens mit Anspielungen und Lücken: die nicht mehr zu überblickende Zahl, die (Ausländer)Masse, auch Ecopop rekurriert auf diesen Angst-Begriff, der in allen populistischen Diskursen ihren Einsatz findet. Ohne die Politik der SVP ist Ecopop nicht zu verstehen, wäre Ecopop auch nie in diesem Ausmass diskutiert worden. Die geistige Atmosphäre der SVP ist seit Jahren erfüllt von einer bodenlosen Engstirnigkeit, von Argumenten, die nur Kurzschluss-Reaktionen ermöglichen; vergebens sucht man in dieser Luft nach Visionen, erhellenden Gedanken. Und ich befürchte, dass es die nächsten Jahre so weitergeht, visionslos, kleinmütig, offen oder verdeckt rassistisch, in einem Land, das von Armut und Dichte nicht einmal eine Ahnung hat. Die Zahlen werden weiterhin für einfältige Einsätze herhalten müssen, um Menschen aus der erwünschten Bevölkerungszahl auszuschliessen, um die eigenen Privilegien einzukerkern. Ja, ich befürchte, dass es da keine Zahlen gibt, wo es wirklich ans Lebendige geht - warum gibt es beispielsweise kein lückenlos geführtes, nationales Krebsregister?

Warum also nicht zum Schluss eine Bitte formulieren. Die dringende Bitte, sich nicht täuschen zu lassen, dass die «wissenschaftlichen Befunde, die Zahlen», in diesem Kontext Menschen meinen. Die Bitte, sich daran zu erinnern, dass das Wesen der Zahlen sich nicht darin erschöpft, Quantität zu sein. Dass sie in allen Religionen eine geistige Physiognomie, eine geistige Farbe bedeuten. Für die Kinder sind Zahlen magisch, wesenhaft - die Lieblingszahl steht der Lieblingshose um nichts nach. Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz schrieb: «Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich dessen nicht bewusst ist, dass sie rechnet.» 

veröffentlicht in: Tages - Anzeiger, 27.11.2014