Die Durchsetzungspartei

Eine Partei sieht sich umzingelt von kriminellen Ausländern, fremden Richtern, fühlt sich hintergangen von einer elitären «classe politique» und sieht ihren «Auftrag» darin, den «Volkswillen» umzusetzen. Nein, nicht von «umsetzen» ist hier die Rede, sondern von «durchsetzen», von der «Durchsetzungsinitiative» der SVP, denn durchsetzen bedeutet Kraft, tätig sein, strengen Willen, durchsetzen heisst, nach Überwindung von Widerstand etwas erreichen; diese positiv konnotierte Vokabel der straff und hierarchisch strukturierten Partei bedeutet, dass sie sich im Feld der Moral im unermüdlichen Einsatz für die Einhaltung des Rechts versteht. So sollen straffällig gewordene Ausländerinnen und Ausländer ohne Wenn und Aber ausgeschafft werden. Die Delikte, für die im Inland wohnhafte ausländische Verbrecher ausgeschafft werden sollen, sind erweitert worden; neben Mord und vorsätzlicher Tötung führen nun auch der Verstoss gegen das Sozialversicherungsgesetz, Diebstahl, Betrug und sogar der Verkauf von selbst angebautem Marihuana zum Landesverweis. Die «Durchsetzungsinitiative» bedeutet also nicht ein Umsetzen der «Ausschaffungsinitiative», wie der Name und die Initianten heuchlerisch suggerieren, sondern offenbart, dass die SVP wieder eine Gelegenheit wahrnimmt, um ihren Willen gegen die Verfassung, das Parlament und neu auch gegen die Gewaltenteilung geltend zu machen; in diesem Prozess der fortwährenden Willensdurchsetzung einer Partei ist die Gewaltenteilung - wichtige Grundlage eines jeden demokratischen Staates - nicht mehr notwendig. Die Richter sind in diesem Prozess der fortwährenden Willensdurchsetzung nicht mehr notwendig, weil nicht mehr einzelmenschlich, von Fall zu Fall geurteilt wird, sondern pauschal, automatisch. Und damit alles unmissverständlich und eindeutig ist, soll der Initiativtext gleich in der Verfassung festgeschrieben werden. Die Rechtsgleichheit gilt nicht mehr - Artikel 8 der Bundesverfassung: «alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich» - und zwar, weil die SVP sich nicht am Menschen orientiert, schon gar nicht an den Menschenrechten, sondern am «Volk», genauer, am «Schweizervolk». Artikel 8 der Bundesverfassung heisst also (längst): «das Schweizervolk ist vor dem Gesetz gleich». Es steht zwar anders geschrieben, aber das tut nichts zur Sache. Um den Status des «Schweizervolkes» zu erlangen, muss man als Ausländerin, als Ausländer einen mitunter absurd anmutenden Hürdenlauf absolvieren - sogar auf der offiziellen Webseite des Bundes ist von einer restriktiven Einbürgerungspolitik die Rede - so dass 2014 nur gerade drei Prozent der Ausländerinnen und Ausländer die Schweizer Bürgerrechte beantragt haben. Die SVP hat mit millionenschweren Kampagnen dafür gesorgt (und wird weiterhin dafür sorgen), dass nicht einmal die dritte und die zweite Generation der Ausländerinnen und Ausländer automatisch das Bürgerrecht erhält. So bleibt der Ausländeranteil hoch, was oft genug verdreht Erwähnung findet. Geflissentlich verschwiegen wird hingegen, dass ein Viertel der Wohnbevölkerung vom nationalen Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen ist. Diese Tatsache scheint vielen Schweizerinnen und Schweizern nicht bewusst zu sein oder aber sie finden es nichts als logisch und gerecht. Wie auch immer: für diesen Viertel der Wohnbevölkerung fordert das Rechtsbewusstsein der SVP im Falle einer Straffälligkeit also auch andere Konsequenzen: das «schwarze Schaf» fliegt raus, selbst wenn es die Muttermilch bereits hier getrunken hat. Auch das Recht, angehört zu werden, wird straffällig gewordenen Ausländern verweigert und ebenso die Prüfung der Verhältnismässigkeit. Damit wäre ich wieder am Anfang; die SVP ist die Durchsetzungspartei und argumentiert im Fall ihres Mitinitianten Heinz Brand folgendermassen: «Die Regeln [der Durchsetzungsinitiative] sind einheitlich und nicht diskriminierend, gelten sie doch für alle volljährigen Ausländer gleichermassen, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus». Muss man Herrn Brand tatsächlich erklären, dass sein Satz eindeutig diskriminierend ist, weil es nicht darum geht, dass alle Ausländer nach dem gleichen Recht beurteilt werden, sondern alle Menschen? Aber genau diese partikuläre Herangehensweise, die der ausländischen Wohnbevölkerung ein rechtliches Apartheidregime aufzwingen würde, wie Daniel Binswanger es formuliert hat, zeigt, dass die Umsetzungsinitiative eben noch mehr ist, als die stetige Änderung der Verfassung und der Gesetze durch die rechtsnationale Volkspartei; in ihrer Bedeutung und in ihrer Essenz ist die Durchsetzungsinitiative, wie alle Initiativen der SVP, einer manipulativen Ideologie verpflichtet, die vor allem deshalb so erfolgreich ist, weil sie rauschhaft Illusionen erschafft. Erstens suggerieren die Rechtsnationalen, dass ihre Argumente universell sind; in Tat und Wahrheit sind sie partikulär, begrenzt, also voreingenommen, wie das Beispiel von Herrn Brand plastisch zeigt. Zweitens wird die Illusion genährt, dass das «Schweizervolk» schuldlos ist - das Recht ist auf der Seite des Schweizers, die Schuld auf der Seite des Ausländers; wie attraktiv ist es doch, vermeintlich auf der schuldlosen Seite zu stehen, ein Narkotikum, das in seiner Wirksamkeit kaum zu überbieten ist. Die SVP garantiert dem Stimmbürger, der Stimmbürgerin (ohne Migrationshintergrund) einen Platz an der Sonne - JA heisst, sich durchsetzen gegen alle anderen, JA heisst, wissen, was Recht ist. Und drittens wird die Illusion kreiert, dass man, weil man Schweizer oder Schweizerin ist, einen privilegierten Status hat und über einer anderen Gruppe steht, bequemerweise und vorzugsweise über derjenigen der Ausländer. Diese dritte Illusion macht pikanterweise auch blind dafür, dass es noch eine andere Gruppe gibt, eine Elite, die in Tat und Wahrheit regiert, eben nicht das «Volk», sondern ein kleiner Prozentzahl der Bevölkerung, die den grossen Batzen unter sich aufteilt und die über dem Gesetz steht, für die das Gesetz also nicht gilt; jene Elite, die notabene von der SVP begünstigt wird, und da spielt es übrigens auch keine Rolle, woher man kommt. Diese Illusionen - Voreingenommenheit, Schuldlosigkeit, Selbstzufriedenheit - sind Teil jeder manipulativen Ideologie; sie machen auch die vorliegende Initiative gefährlich attraktiv. Die SVP nutzt seit Jahren und je länger je perfider demokratische Prozesse für ihre antidemokratischen Zwecke. Rechtsgleichheit, Gewaltenteilung, Menschenrechte sind in diesem Staat, der sich einbildet, die Urdemokratie geradezu zu verkörpern, nicht mehr gewährleistet. Die SVP lügt. Warum wird diese Partei in ihrer Hypokrisie nicht endlich auf allen Ebenen entlarvt? Ist es nicht deutlich genug, dass der Patron der Sonnenpartei neuerdings behauptet, die Schweiz befinde sich auf dem «Weg in die Diktatur»? Und wo bleibt der dezidierte Widerstand der bürgerlichen, liberalen Parteien?

Ich würde gern in einer Gesellschaft leben, die sich eingesteht, dass der strukturelle Rassismus keineswegs verschwunden ist; die Diskriminierungs- und Ausschlussstrukturen sind allgegenwärtig, wie die vorliegende Initiative zeigt, aber sie beschränken sich längst nicht auf die politische Ebene. Ich würde gern in einer Gesellschaft leben, die sich grundsätzlich darüber Gedanken macht, wie demokratisch es ist, wenn ein Viertel der Bevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen ist und für die nicht dasselbe Recht gilt. Ich würde gern in einer Gesellschaft leben, die sieht, wie die Ausländerinnen und Ausländer repräsentiert sind, die plakativen Hängungen beispielsweise, alle paar Monate wieder, seit Jahren, gespeist aus endlos fliessendem Geld einer Elite; grelle, hässliche Worte, die mich anspringen wie abgerichtete Hunde, ein Bestiarium bestückt aus schwarzen Schafen, Raben, Ratten, die in erster Linie von der Rohheit und der Verbiesterung der Initianten erzählen, die, obwohl sie gegen die Würde des Menschen verstossen (Artikel 7 der Verfassung), legal sind. Ich würde gern in einem Land leben, wo eine Mehrheit des Parlaments Initiativen dieser Art gründlich prüft, einer kritischen Analyse unterzieht und zum Schluss kommt, dass das «Stimmvolk» nicht über eine solche Vorlage abstimmen kann, weil sie die Grundlagen einer funktionierenden Demokratie missachtet. Ich würde gern in einer solidarischen Gemeinschaft leben, die bei Initiativen à la SVP mit einem einfachen Mittel antworten würde, nämlich dem zivilen Ungehorsam und dem Generalstreik - aber auch das Streikrecht, dieses oftmals einzig wirksame Mittel gegen eine bestehende Herrschaftsstruktur, ist in der Schweiz ungesund beschnitten worden. Und wenn Sie mich nun ausschaffen wollen - weil ich beispielsweise zugebe, dass ich das nächste sich aufdrängende SVP Plakat verwüsten will - dann gebe ich Ihnen zu Bedenken, dass das Land, in dem ich geboren worden bin, nicht mehr existiert. Jugoslawien wurde von nationalistischen Demagogen für immer zerstört - auch sie nannten sich Patrioten - deren beschworene Illusionen führten zu Vertreibungen und Massenmord, und dies alles geschah im Namen des Rechts und der Gerechtigkeit, in der rauschhaften Überzeugung, dass das eigene «Volk» hervorragend sei. Sie sagen, dass das in der Schweiz nicht möglich ist? Oh doch, es ist möglich, überall.

Allen hysterischen Initiativen zum Trotz: Ich bin da, viele andere sind da, er, sie, der ausländische Inländer, die inländische Ausländerin, wir sind da und «keine noch so restriktive Politik kann etwas daran ändern, dass die Schweizer Gesellschaft mit und ohne Schweizer Pass längst «Migrationsvordergrund» hat, wie Kijan Espahangizi schreibt Und: Wir, die vielen verschiedenen, verbinden uns über die Nationalitäten hinweg, und dieses «Wir» bedeutet die Zukunft.


© Melinda Nadj Abonji, Dezember/Januar 2016

Statement gegen die Durchsetzungsinitiative. Gelesen an den Solothurner Filmtagen, 22. Januar 2016.