Demokratie?

Die Schweiz kennt kein Verfassungsgericht, Initiativen, wie die Minarett-Initiative, die Ausschaffungs-Initiative, die Masseneinwanderungs-Initiative sind möglich, obwohl sie mitunter verfassungswidrig sind. Ein Land, das so stolz ist auf seine Verfassung - deren erster Satz übrigens identisch ist mit dem ersten Satz der iranischen Verfassung (Im Namen Gottes des Allmächtigen) - hebelt seine Verfassung aus, die doch die demokratische Organisation ihrer Gemeinschaft garantieren sollte, wie ist das möglich? Ein Land, das internationale Abkommen mittels Volksentscheid für nichtig erklärt, wie ist das möglich? Ein Land, das als Musterbeispiel für die Demokratie gilt? Die Antwort ist einfach. Die Demokratie ist zur Farce geworden. Gerade die Initiativen der letzten Jahre, die ebenfalls Ausdruck sein sollten einer gut funktionierenden Demokratie, zeigen nur noch deren Zerrbild. Ein paar millionenschwere Männer - gestützt von einem straff und hierarchisch organisierten Fussvolk (ein Männerbund mit wachsendem Frauenanteil) - lancieren ständig aufwändige Initiativen, pflastern Köpfe zu, stilisieren sich ausdauernd als Demokraten, als Volksvertreter, die das Volk bodenständig vertreten, und es nicht - wie die da oben, in Bundesbern - regieren. Diese Stilisierung funktioniert, auch in den Medien wird Blocher fast ausnahmslos bewundernd als Mann gelobt, der die Bodenhaftung nie verloren hat (nein, Blocher träumt nicht vom Fliegen, ganz bestimmt nicht); Demokratie ist ein Lieblingswort der Rechtspopulisten, sie panzern sich geradezu mit ihm, bei jeder Gelegenheit, und der Volksentscheid, das Zwillings-Lieblingswort, wird mit unvorstellbar viel Geld hergestellt. Wir, wir? müssten erkennen, dass in diesem scheinbar urdemokratischen Staat sehr effiziente, politische Meinungslenkung betrieben wird (ich halte das Volk nicht für ein Opfer, aber es lässt sich lenken, von so genannten charismatischen Figuren; Macht kombiniert mit Geld ist zwar oft Katzengold, doch diese Legierung scheint ewig zu glänzen). Der Hinweis, dass in anderen Ländern das Stimmvolk nicht anders abgestimmt hätte, wenn es die Gelegenheit dazu gehabt hätte, erscheint mir problematisch. Müsste man nicht viel eher grundsätzlich und präzis davon sprechen, warum die demokratischen Gesellschaften sich in einer tiefen Krise befinden, (innenpolitisch) zerrissen sind, vielleicht auch deshalb, weil man sich fast automatisch, marionettenhaft auf DIE DEMOKRATIE beruft, ohne sich um sie zu kümmern? Wir wollen mehr Demokratie wagen, dieser Satz von Willy Brandt hat mich schon als Kind beeindruckt und zwar deshalb, weil er ausdrückt, dass Demokratie Mut braucht. Demokratie wagen bedeutet Bewegung, ja, man muss etwas für die demokratische Staats- und Gesellschaftsform tun, damit sie lebendig bleibt, ansonsten wird sie zu einer Floskel oder gefährlicher: zu einer ideologisch-moralischen Waffe. Gerade die rechtskonservativen Oligarchen, die eben nicht nur im bösen Russland anzutreffen sind, gebärden sich demokratisch, um die Menschen dazu zu bringen, eine Politik zu unterstützen, die im Grunde gegen ihre eigenen Interessen gerichtet sind. Und bezüglich Wahrheitsanspruch in der Demokratie schreibt der Pädagogikprofessor Roland Reichenbach: Demokratie ist das Eingeständnis, dass man keine Einigkeit - keinen Konsens - finden wird. Es gibt zwar eine Mehrheit, aber sie kann keine Wahrheit beanspruchen. Entscheidend sind Lösungen, die die Verdummung der Mehrheit verhindern. Gerade deshalb ist der Diskurs so wichtig.

 

Im August 1914 brachte der achtundzwanzigjährige Max Daetwyler auf dem Kasernenplatz von Frauenfeld die versammelten Offiziere und Feldprediger in unvorhergesehene Turbulenzen: Daetwylers Vorgesetzter hatte bereits Achtung steht! gerufen, der zuständige Offizier wollte schon zur Verkündigung der Eidesformel ansetzen, da übergab Daetwyler seinem Nebenmann das Gewehr, ging im Laufschritt zur Tribüne, hin zur stramm stehenden militärischen Obrigkeit, und rief laut und deutlich: Ich bin gegen den Krieg, ich schwöre nicht!

Es könne doch nicht sein, dass diese Welt, die durch fabelhafte Entwicklung miteinander verbunden war, sich bekriegt - so formulierte es Daetwyler 1968 im Rückblick auf die damaligen Ereignisse; jeder Soldat müsse sich doch weigern, an diesem organisierten Menschenmord teilzunehmen, keine Soldaten, kein Krieg, das sei ihm plötzlich klar geworden - Daetwyler, der bereits sieben Wiederholungskurse im Militär absolviert hatte, bei seinen Vorgesetzten als tadellos, dienstfreudig und zuverlässig gegolten hatte. Nach seinem „Auftritt“ wurde er sofort verhaftet und in die Irrenanstalt Münsterlingen gebracht, Diagnose: Schizophrenie, unzurechnungsfähiger Psychopath. Daetwyler ging als erster schweizerischer Dienstverweigerer des Ersten Weltkrieges in die Geschichte ein.

Hat Daetwyler nicht als logisch denkender und fühlender Mensch gehandelt, durch und durch demokratisch, indem er sich einer ganz grundsätzlichen Ethik verpflichtet fühlte? Sind wir denn wirklich so demokratisch, wenn wir (in der Schweiz) unzählige Stimmzettel ausfüllen, über deren Inhalt wir in den wenigsten Fällen genau Bescheid wissen? Oder anders gefragt: Lässt das ständig sich drehende Abstimmungs-Karussell nicht die ungesunde Annahme und eine überhebliche Mentalität entstehen, dass wir uns zu allem äussern können, dass wir so wichtig sind? Und wo bitte schön hat sich die demokratische Instanz auf Bundesebene versteckt, die sich zu solch suggestiven Begriffen wie Masseneinwanderungsinitiative äussert? Ja, wir sind wichtig, wenn wir uns endlich eingestehen, dass wir auch in der Urdemokratie manipuliert werden - so müssen wir über Initiativen abstimmen, die Scheinprobleme behandeln (wie die Minarett-Initiative; drei Minarette gibt es in der Schweiz - wer hat sie je gesehen?), Scheinprobleme, die aber den Ernst der Sache maskieren: dass wir nämlich durch die Annahme der Initiative die Religionsfreiheit nicht mehr respektieren. Ja, wir sind wichtig, wenn wir fähig sind, aus eigener Überzeugung heraus die Stimme zu erheben, in unserem alltäglichen Leben, wie es Max Daetwyler getan hat, dessen Geschichte mir als eindringlicher, mahnender Ruf aus der Vergangenheit erscheint. Ja, das letzte Abstimmungsergebnis bedeutet eine demokratische Katastrophe.

 

veröffentlicht in: Badische Zeitung, 8.3.2014