Interview zu Schildkrötensoldat in Theater der Zeit, Heft Nr. 6, Juni 2014


tdz: Als Performerin treten Sie seit Ende der 90er Jahr auf. Nun gelangt erstmals ein Stück von Ihnen auf die Theaterbühne: "Schildkrötensoldat". Was interessiert Sie am Theater und warum haben Sie nicht bereits früher für die Bühne geschrieben?

Lange, bevor ich zum Schreiben kam, haben mich zwei Persönlichkeiten geprägt, die sich auf unterschiedliche Art mit dem Theater beschäftigt haben. Die erste ist Herbert Gamper, der als  Literaturwissenschaftler und Dramaturg gearbeitet hat (unter anderem am Zürcher Theater Neumarkt). Die zweite war eine grossartige Stimmbildnerin, die mit allen namhaften Regisseuren zusammengearbeitet, aber auch selbst Regie geführt hat. Bei beiden habe ich gelernt, dass das Lesen eine Kunst ist, dass in der (vertikalen und horizontalen) Tiefenstruktur eines Textes alles geborgen ist; nicht nur die thematischen Strömungen und Schichtungen, sondern auch die musikalische Bewegung - wie die Satzzeichen-Setzung, die Vokalabfolgen, der spezifische Gebrauch der klingenden Konsonanten.

Den Text mit all seinen Implikationen zu verstehen, bereits als Teil der Bühnenarbeit zu begreifen, diese bewusste und notwendige Hingabe an den Text ist aber, das habe ich in den letzten Jahren festgestellt, in den allermeisten Bühnenproduktionen nicht präsent; Literatur, die literarische Sprache erscheint mir geradezu unvereinbar mit dem Theater zu sein, den ich als Ort der Überbelichtung empfinde, der ohne Tricks und (mediale) Effekte nicht mehr auskommt. Obwohl mich das Theater also abschreckt, habe ich wieder ein Stück geschrieben (mein drittes übrigens), aus dem einfachen Grund, weil ich mich in meiner kritischen Haltung nicht bequem einrichten möchte.

tdz: Ihr Stücktext verzichtet auf Figurenzuweisungen, Szenen, Akte. Aktion macht sich in sprachlichen Bewegungen fest. Lässt sich Ihr Stück als ein Theater der stimmlichen Polyphonie verstehen?

Zoltán Kertész - ein Aussenseiter in mehrfacher Hinsicht - ist die Hauptfigur. 
Dass hauptsächlich aus seiner Perspektive erzählt wird, ist bedeutungstragend in hierarchischen Gesellschaftsstrukturen, deren perverseste Ausformung wohl die Armee ist, wird die eigene, individuelle Stimme mit allen Mitteln zu unterdrücken versucht (nachzulesen bespielsweise im Dienstreglement der Schweizer Armee). In der Art, wie Zoltán nun erzählt, ist seine eigenwillige Wahrnehmung, seine Imaginationswelt geborgen. Ausserdem wird aber durch Zoltáns Stottern sehr grundsätzlich erfahrbar, wie Sprache als Mittel der Zurichtung (Befehl und Gehorsam) funktioniert. Die eigentlich dramatische Spannung des "Schildkrötensoldaten" liegt aber im Paradoxon, dass einer erzählt, der nicht mehr erzählen kann, der schon verstummt, bereits von der "Bühne" abgetreten ist. Die zweite Erzählfigur ist eine (namenlose) Zeugin. Sie steht für Zoltán ein, beschreibt das Geschehen aus einer gewissen Distanz und doch in einer grossen Verbundenheit mit ihm.

Ich habe auf Szenen und Akte verzichtet, weil es mir nicht notwendig erschien, diese zu benennen, da im Text alles Wesentliche genannt ist. Die Zwischentitel sind als atmosphärische Färbungen zu verstehen. Dass Sprache, Sprechen auch handeln bedeutet - und dies nicht erst seit der Sprechakttheorie - ergibt sich aus meinen obigen Antworten. Und aus einer Figur heraus eine Vielzahl von Stimmen hörbar zu machen, ja, diese Art von Polyphonie habe ich angestrebt.

tdz: "Schildkrötensoldat" entstand im Rahmen von "Stück Labor - Neue Schweizer Dramatik" am Theater Basel. Welches Fazit ziehen Sie aus dieser spezifischen Arbeitssituation?

Ein Labor hat für mich mit Forschung zu tun; für diese Art der intensiven Zusammenarbeit hatten wir zu wenig Zeit. Und der Zwang, nach so kurzer Zeit ein Stück aufführen zu müssen, dient letztendlich bloss der Verhärtung und Verkrustung der allgegenwärtigen Oberfläche, die im ständigen Ausstoss von Produkten - nicht anders als in der Warenwelt - ihre Erfüllung findet. Trotz allem spricht das nicht gegen das Projekt, es heisst nur, dass es für meine Art der Forschung und des Austausches nicht die richtige Form war.