Pressespiegel Im Schaufenster im Frühling

 

WOZ, 30. September 04. Von Andres Heusser

Es brodelt unter der Kruste

 

So schillernd, wie ihr Name, ist Melinda Nadj Abonji auch als Person. Dank ihren zahlreichen Auftritten auf Bühnen im In- und Ausland kennt man sie seit Jahren als charismatische Musikerin, Textperformerin und Bühnenpartnerin des Beatboxers Jurczok 1001: Virtuos lassen die beiden Wort und Rhythmus, Komposition und Improvisation, Gesang und Instrumentalklang miteinander verschmelzen. Der Erfolg beim Publikum ist gross, so dass sie mittlerweile von ihrer Bühnenkunst leben können. Jetzt hat die vielseitige Künstlerin auch noch einen Roman geschrieben, der aufhorchen lässt. (...) Dank einer raffinierten Dramaturgie, die wie bei einer klassischen Kriminalgeschichte mit den Mitteln der Verschlüsselung, Andeutung und Auslassung arbeitet, gelingt es Nadj Abonji, ein beklemmendes Klima des Misstrauens und der permanenten Gefährdung zu erzeugen. Der Leser ahnt bald, dass praktisch alle Figuren Geheimnisse in sich bergen, die sie unter einem schützenden Kokon zu verstecken versuchen. Vielleicht kann man die Textur von Nadj Abonjis Roman mit einer Kraterlandschaft vergleichen, unter deren Oberfläche es beständig brodelt, auch wenn sich darüber bereits eine erstarrte Lavakruste gebildet hat: Einerseits versteckt die brüchige Decke das Darunter, andererseits finden sich in ihrer Oberflächenstruktur auch Spuren und Narben, die auf das Darunter verweisen. In Nadj Abonjis Buch sind es die vielen Handlungssplitter, die wiederkehrenden Motive und Gesprächsfetzen, die solche Spuren bilden und die sich im Laufe der Geschichte zu einem Bild zusammenfügen. Einem Bild allerdings, das - anders als bei einer klassischen Kriminalgeschichte – auch am Schluss der Erzählung keine Auflösung erfährt, sondern unvollständig und vieldeutig bleibt. Mit Im Schaufenster im Frühling entwirft die Autorin ein verstörendes Mosaik einer Welt, die in ihrem Innersten vom Tabu, von der Verletzung und vom Schmerz - und vom Schweigen darüber – zusammengehalten wird. Nadj Abonji gelingt das Kunststück, eine sprachliche Form für die Sprachlosigkeit ihrer Figuren zu finden, ohne dabei den Schmerz und die Sprachlosigkeit zu benennen oder direkt zu thematisieren. Sie löst dieses Dilemma, indem sie eigens für diese Erzählung eine Sprache entwickelt, die man sich kaum mehr ökonomischer und reduzierter vorstellen kann: "Im Bahnhof ist viel Luft und das Gegenteil von Bahnhof ist Friedhof. Luisa taumelt. Durchzug. Luisa steht still. Und die Grösse der Stadt in der Kälte ist spürbar am Bahnhof." Auffallend an Nadj Abonjis Sprache ist, dass die Sätze trotz ihrer sparsamen Setzung ausgesprochen poetisch und verspielt wirken; und dass sie im Lesefluss tatsächlich wie Musik zu "klingen" beginnen. Ihre Art, die Worte zu setzen, ist dabei nicht einfach ein Stilmittel, sondern wird konsequent aus dem Inhalt destilliert, indem die Reduziertheit der Sprache die Rohheit der dargestellten Welt spiegelt. Und unabhängig davon, ob einem eine solche Sprache gefällt oder nicht, muss man anerkennen, dass sie in ihrer Radikalität und Konsequenz eine erstaunlich reife Leistung darstellt - nicht nur, aber gerade für einen Romanerstling.

 

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Berner Zeitung, 24. 8. 04. Von Bernhard Ott

Die Zärtlichkeit des Flüsterns

 

Die Stärke liegt zweifellos darin, dass Abonjis Sprache das Ungeheuerliche zu vermitteln vermag. Das ungeheuerlich Brutale erinnert entfernt an die Texte der freiwillig aus dem Leben geschiedenen Wahlzürcherin Aglaja Veteranyi. Das nüchtern beschreibende in Abonjis Erstling wirkt mitunter aber eindringlicher als die drastische Metaphorik von Veteranyis vielbeachtetem Roman "Warum das Kind in der Polenta kocht". Da wird berichtet, wie Luisas Freundin Valérie ihrer Sprachlosigkeit Ausdruck zu verleihen versucht, indem sie Feuer legt. Die Justiz geht ihren Gang. Das Gericht glaubt Valéries Aussagen nicht, wonach sie sich an ihrem Vater rächen wollte, der sie sexuell missbraucht hat. Die Aussagen eines Kindes scheinen oft halt wirr zu sein. "Der letztmögliche Beweis wäre, sich umzubringen", sagt die erwachsene Valérie im Rückblick. Melinda Nadj Abonji hat aber nicht nur für das Brutale, sondern auch für das Zärtliche eine Sprache. Als Kind wäre Luisa am liebsten im Wäschetrockner verschwunden oder hätte sich gern in Luft aufgelöst. "Wenn ich in die Mappe reinpassen würde, würde mich jemand davontragen", träumt die ABC-Schützin. Die junge Frau hingegen freundet sich an einem Nullpunkt mit Frau Sunder an, einer älteren Frau, die sie mit überdimensionierten Fotoalben und Zwetschgenschnaps "verführt". Es bleibt unklar, was Luisa der Frau zuletzt ins Ohr flüstert. Frau Sunder jedenfalls muss lachen, wie sie schon lange nicht mehr gelacht hat: "Seit Jahren hat mir niemand mehr ins Ohr geflüstert." Melinda Nadj Abonjis Erstling hat etwas Exotisches. Das Elend der Kindheit Luisa Amreins ist eigentlich unaussprechbar. Im spröden Charme der Sprache Nadj Abonjis tritt es einem aber beinahe unfreiwillig nahe. Man legt das Buch beiseite und wundert sich für einen Moment, warum man trotzdem heiter ist.

 

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Sonntagszeitung, 17. Oktober 04. Von Nora Reinhardt

Die Augen der Puppe

 

Die Zürcher Autorin Nadj Abonji hat sich klugerweise entschlossen, die grausame Realität nicht detailreich auszumalen. Ihre Sprache ist schlicht und distanziert, die Erzählstruktur komplex. Abonji fügt ein Mosaik aus Gegenwartsepisoden, aus Rückblenden in die Kindheit und Pubertät zusammen. Somit erschliesst sich den Lesern erst nach und nach das Geheimnis der Protagonistin. Von Arglosigkeit kann bei dieser Methode wirklich keine Rede sein. Und so macht die raffinierte Erzähltechnik der 36-jährigen Performance-Künstlerin zu einem aussergewöhnlichen Leseerlebnis.

 

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Südkurier, 28. Oktober 04. Von Melanie Hinz

Schmerzhafter Sound

 

"Wo soll ich anfangen, fragt Luisa und Frau Sunder schiebt ihre Fotoalben beiseite, mittendrin, wo denn sonst. Luisa fängt an zu erzählen." Dieses "mittendrin" ist symptomatisch für Melinda Nadj Abonjis Debütroman Im Schaufenster im Frühling. Doch dieses "Mittendrin" ist kein lebloser Zustand des Abhängens, den noch die Pop-Generation beschrieben hat, wo es um die richtigen Markenklamotten, Drogen und Platten ging. Bei der 1968 in Becsej geborenen Abonji geht es um mehr: um Quälereien, das kleine und grosse Leid, Verluste und Schmerzen, die das Leben mit sich bringt. (...) Traumatisch werden immer dieselben Erinnerungen erzählt, als hängen sie wie Tracks auf einer Kassette. Die Kassette ist Luisas Gedächtnis. Ständig wird hin und her gespult, plötzlich zeitliche Zensuren gesetzt: In "Im Schaufenster im Frühling" werden Geschichten verwoben, die historisch nichts miteinander zu tun haben. Der Leser will immer mehr wissen, ist zuweilen verstört über die beschriebene Grausamkeit oder fasziniert von der Eigenwilligkeit Luisas. Ihre Erinnerungen behalten bis zum Schluss ihr Geheimnis. Abonjis Roman ist fragil, kunstvoll, verschachtelt. Er lebt vom Sound der Sprache. Messerscharfe, unmittelbare, klare Sätze hängen gewichtig aneinander: "Luisa glaubte, es sei Krieg, weil immer die einen gingen und die anderen blieben." Diese Sprache des Schmerzes ist die beeindruckende Stärke des Romans von Abonji.

 

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Literaturherbst, Schaffhauser Nachrichten, 2. Oktober 04. Von Beat Mazenauer

Wer nicht hören will, verpasst die Hälfte

 

(...) Tatsächlich ist es angeraten, Nadj Abonjis Prosa mit wachem Ohr, am besten laut für sich zu lesen. Schon nach wenigen Zeilen ist so zu spüren, wie Rhythmus und Klang wesentliche Elemente dieser Literatur sind. "Luisa Amrein hatte damals eine grüne Haarschleife bekommen. Sie passte gut zu ihrem Haar, das lang und blond war." Die Betonung der A-Laute in diesem ersten Satz senkt die Lektüre hinab in die Erinnerung an "damals". Die ausgeprägt rhythmische Gliederung setzt klare Akzente und legt sich im Fortgang des Textes immer stärker wie ein transparenter Film über ein Verschweigen, das in diesem Roman nicht nur behandelt, sondern auch hörbar gemacht wird. (...) Der Takt der kurzen, parataktischen Satzfolgen, die refrainartigen Variationen verleihen dieser Prosa etwas Tastendes, gar Rituelles. Es ist ein verborgenes Erzählen, das nicht ausdrücklich werden will, werden kann. Die sprachliche Leichtigkeit täuscht auch darüber hinweg, dass unterschwellig eine Entwicklung stattfindet, ausgedrückt in subtilen Verschiebungen im rhythmischen Satzgefüge. Mag sein, dass zwischendurch die dramaturgische Spannung etwas abfällt, dass die eine oder andere Schlaufe zu viel ist. Unübersehbar und unüberhörbar bleiben vor allem die Sorgfalt und die Bewusstheit, mit der diese ausgearbeitet ist. Darin liegt die Differenz zur landläufigen Debütprosa, und das hätten auch die Juroren in Klagenfurt bemerken können.

 

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www.berlinerzimmer.de. Von Frank Schorneck

Die Waffe unter dem Bett

 

Melinda Nadj Abonji erzählt ihre Geschichte nicht stringent, Schicht um Schicht dringt sie vorsichtig zum Kern vor, springt in den Zeiten hin und her, seziert Luisas Psyche, indem sie ihr Erinnerungsskalpell mal hier, mal dort ansetzt und einen Streifen Verletzung, Enttäuschung und Verzweiflung abzieht. Schritt für Schritt erhöht sie dabei die Spannung. Dieser Roman verwirrt und verstört. Er findet nicht die Worte für das, was Luisa widerfahren ist, aber die Leerräume zwischen dem Gesagten sprechen eine sehr deutliche Sprache. Am Ende lässt er seine Leser im Unklaren darüber, ob Valérie und Luisa nicht eventuell ein und dieselbe Person sind, ob vielleicht auch die Kindheitsfreundin Antonella nur eine Abspaltung Luisas war. In Nadj Abonjis Prosa verwischen Wirklichkeit und Phantasie auf wunderbare Weise, für das Grauen findet sie erschreckend schöne Bilder. Ein gewagtes und gelungenes Debüt.

 

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NZZ, 21. September 04. Von Beatrix Langner

Verschwommene Landschaft

 

(...) Das Verschleierte, Somnambule dieser Prosa wirkt verstörend, weil es Undeutlichkeit als Stilprinzip demonstriert. Die Handlung wird durch Rückspulen und beschreiben dauernd verwischt. Das funktioniert, weil sich der Text auf einer Ebene von Alltagssprache bewegt, in der Gespräche und Gedanken in ihre Partikel zerlegt werden. Viel zu viele Figuren irrlichtern durch den Text, Kindheitsgefährten, Figuren der reinen Ambivalenz, die wie Luisa Gewalt erfahren haben und ausüben, von denen aber die meisten keine eigene Geschichte haben und blosse Namen bleiben. (...) Präzise im sprachlichen Detail und traumverhangen im Handlungshintergrund: Nur so gelingt es Nadj Abonji, die pseudonaive Sicht der kleinen Luisa mit der Erwachsenenperspektive der verletzten Frau zu verleimen. Im letzten Satz des Romans schaut Luisa auf das Bild einer "verschwommenen Landschaft". Es ist dieselbe, aus der der Leser soeben benommen herausgetreten ist: Hat er jetzt einen Roman über die Unmöglichkeit der Liebe gelesen, oder ein literarisches Bravourstück über die Unschärfe als poetisches Prinzip?

 

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Buchkultur, Heft 96, Dezember 04/Januar 05. Von Beatrice Simonsen

Neue Stimmen

 

Melinda Nadj Abonji ist auf Vermittlung nicht wirklich angewiesen: Wenn sie ihren Roman präsentiert, zieht sie mit ihrer ausdrucksvollen Stimme die Aufmerksamkeit sofort auf sich. Wohl handelt es sich um eine ausgeklügelt konstruierte Kindheitsgeschichte, die sich allerdings ganz behutsam in einen Kriminalroman wandelt. Luisa Amrein, die misshandelte Hauptfigur, entkommt Schritt für Schritt ihrer Passivität und schlägt zurück. Aus dem Opfer wird eine Täterin. Wie es dazu kommt, erzählt Melinda Nadj Abonji in beinah musikalisch angeordneten Sequenzen, in sich wiederholenden Textpassagen und trifft dabei haarscharf den Ton, mit dem das Schreckliche eben nicht zu erzählen ist. In Vor- und Rückblenden wird die traumatische Kindheit der Luisa Amrein mit ihrer bizarren Liebe zu einem geheimnisvollen Mann namens Frank collagiert. Die "Zeitbombe", die unter Franks Bett findet, tickt in vielen Köpfen. Der offene Schluss des Romans ist der bewusste Verzicht auf eine Lösung. Die Autorin kann "nur versuchen, gesellschaftliche Zustände zu benennen, aber nicht erklären oder beurteilen." Insofern entzieht sich der Text einem traditionellen Erklärungsmuster. (...)

 

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Blick, 30. August 04. Von Rico Bandle

Der Krieg findet zu Hause statt

 

(...) Nadj Abonji benützt in ihrem Erstling eine gewöhnungsbedürftige rhythmische Sprache. Mit den vielen Zeitsprüngen und Wiederholungen findet sie eine eigenwillige, starke Form, um die wirren Gedanken der seelisch verwahrlosten Jugend auszudrücken.

 

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Sonntagsblick, 3. Oktober 04. Von Klaus Paukovits

Saat und Ernte von Gewalt

 

(...) Melinda Nadj Abonji zeichnet in ihrem beklemmenden und ungemein sorgfältig erzählten Roman Im Schaufenster im Frühling die Strukturen der Gewalt nach, die das Leben von Luisa Amrein bestimmen und aus denen sie sich nicht befreien kann.

 

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Tages-Anzeiger, 5. Oktober 2004. Von Claus-Ulrich Bielefeld

Ein Kindheitsparadies, das keines war

 

(...) Es ist ein Weg der Desillusionierung, den die Autorin auf raffiniert-hinterhältige Weise beschreitet. Die Sprache ihres Romans verliert bis zum Schluss nicht den leichten und verspielten Kinderton. Doch da ist längst klar, dass Luisa nie in einem Kindheitsparadies gelebt hat. In die scheinbare Idylle schiesst nach und nach das Gift der Gewalt, in den naiven Klang mischen sich zunehmend Dissonanzen. (...) Es gehört zum Konstruktionsprinzip dieses Buchs, das auf vetrackte Weise von der Gewalt erzählt und davon, wie man sich der Gewalt erinnern kann: abwehrend, bruchstückhaft, in verblassten Bildern, in irritierenden Blendungen. Es ist ein Buch der Andeutungen und Aussparungen, in dem auch das, was nicht erzählt wird, mitklingt und für eine nachschwingende Unruhe sorgt.

 

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Der Landbote, 13. November 04. Von Bernadette Conrad

Schmerzlandschaften der Seele

 

(...) überhaupt bilden Wiederholung und Redundanz zentrale Stilmittel für Melinda Nadj Abonji. Ihr Stil der kurzen Hauptsätze, mit denen sie oft weit auseinanderliegende Inhalte zusammenhängt, vermittelt eine Atmosphäre trancehafter Leblosigkeit: als würde jemand wahllos repetieren, was ihm (oder ihr) im Leben zugestossen und was davon geblieben ist. Die zeitliche Ordnung spielt dabei eine untergeordnete Rolle; in Luisas Kopf gehen die Schrecken der Kindheit nahtlos über in die Schrecken des Erwachsenenlebens; an die Stelle treuer Kindheitsbegleiter sind mitfühlende oder seelenverwandte Erwachsene getreten. Das also, was den Roman von Melinda Nadj Abonji zuerst zu einer anstrengenden Lektüre werden lässt - das Fehlen klarer Chronologien auf allen Textebenen - erweist sich nach und nach als treffendes Bild einer tiefen inneren Verstörung. Aber: So verwirrt der Kopf ist, so klar ist er zugleich, denn die Ebene seelischer Wirklichkeit kann ja gar nicht besser beschrieben werden denn als Chaos von Erlebtem, in dem sich das zueinander ordnet, was zueinander gehört. (...) Die Brandmetapher kehrt immer wieder - Bild für die Explosivkraft, die unter Luisas Leben schlummert und deren Wucht ihr die Freundinnen spiegeln.

 

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Radio Aktiv, Hameln, 20. Januar 05. Von Barbara Steinbauer

Buchtipp: Im Schaufenster im Frühling

 

(...) Fassbar wird die Erzählung nur, wenn man das musikalische, das rhythmische der Sprache berücksichtigt, am besten laut liest. Dann erhalten die kurzen Satzfolgen, die refrainartig wiederkehrenden chronologischen Gliederungen eine Struktur, dann wird das Besondere dieser modernen Prosa spürbar. Man muss diesen Roman nicht unbedingt mögen, aber wer sich dafür interessiert, welche Wege heute junge Autoren gehen, wird hier eine bemerkenswerte Facette vorfinden.

 

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Volltext, Februar/März 03. Von Martin Prinz

Nach dem Boom

 

Zum ersten Mal habe ich Nadj Abonji während der Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2000 aus ihrem Manuskript Im Schaufenster im Frühling lesen gehört. Das LCB, in der Gestalt seines ideenreichen Leiters Ulrich Janetzki, hatte sechs Autorinnen und Autoren eingeladen, um ihre noch unveröffentlichten Texte dem Fachpublikum vorzustellen. Nadj Abonji las direkt vor mir. Selten, eigentlich noch nie, habe ich davor eine Stimme gehört, die auf derart sachte Weise einen Text durchdrang, selbst zum Textkörper wurde. Bis in die kleinsten Ritzen des Saales drang die Stimme dieses Schreibens. Jede Anfrage seit der Lesung in Leipzig aufmerksam gewordener Agenturen oder Verlage lehnte sie ab. So eindrucksvoll sie mit einer einzigen Lesung in der damals schon abbröckelnden Welt der Vorschuss-Verhandler und Buchstaben-Verwerter aufgetaucht war, so konsequent verschwand sie schon während ihres Berlin-Aufenthaltes aus dieser Szene, und, zurück in der Schweiz, in einer mit aller Kraftanstrengung fortgesetzten Schreibarbeit. Melinda Nadj Abonjis Prosa ist eine Textur der Gewalt. "Luisa Amrein hatte damals eine grüne Haarschleife bekommen." So lautet der erste Satz des erst vor wenigen Wochen fertiggestellten Manuskriptes von Im Schaufenster im Frühling. "Sie passte gut zu ihrem Haar, das lang und blond war." So der zweite. "Sie erinnert sich, wie sie sich vorzustellen versuchte, wie die Haarschleife aussieht." Schon in diesem dritten Satz führt Nadj Abonji die notwendige Gegenwärtigkeit allen Erinnerns und die unerreichbare Vergangenheit der Geschehnisse zusammen. Als einen regelrechten Zusammenfall jeglicher Zeit-Topographie. "Vielleicht würden heute alle ihr Haar bemerken," heisst es im Text weiter, "sie trägt es absichtlich in Fetzen. Damals sah sie ihren Hinterkopf mit der grünen Schleife und es konnte ihr nicht so recht gefallen." Nadj Abonjis Erzählung beginnt sehr bewusst nicht im Gesicht des Mädchens, in bestenfalls vermeintlicher Offensichtlichkeit, sondern sucht über den Hinterkopf mögliche Zugänge zum Erlebten, tastet von dort, der Rückseite des Denkens, die noch auffindbaren Reste des Er- und überlebten ab. Wie jeder Blick von aussen auf sich selbst, der jeden Zugriff auffängt, birgt er jedoch eine fürchterliche und kaum einsehbare Parallele. Möglicherweise sieht sich das Opfer in diesem Augenblick aus derselben Distanz zu, wie es sonst allein dem Täter möglich ist, verdrängt sich letztlich selbst. In dieser Distanz liegen jene Zeitsprünge, Schnitte, Neuansätze des Textes zwischen Damals und Heute als immer neu versuchtes Wiedergewinnen von Gegenwart begründet. Denn schon damals sah sie ihren Hinterkopf mit der grünen Schleife und es konnte ihr nicht so recht gefallen." In der scheinbaren Wiederkehr gesichtslos vorbeigezogener Jahreszeiten, Tage oder Nächte, tastet Im Schaufenster im Frühling mithilfe der Macht der Wiederholung das Vergangene nach brauchbaren Erinnerungsspuren und -bildern ab. In der Musikalität ihrer Prosa findet Melinda Nadj Abonji dabei zu einer Sprache des Schmerzes, die kein weiteres Mal zugreift, bezeichnet und stigmatisiert, sondern, auf unheimliche Weise, in vielmehr lesender als beschreibender Weise in die verminte Landschaft dieser Kindheit vordringt. Selten scheint der Begriff der Notwendigkeit besser zu einem literarischen Vorhaben gepasst zu haben. Melinda Nadj Abonji arbeitet keine individualisierte Erzählung von Luisas Erleben aus, sondern eine maskenhafte. Das erschreckt weit mehr, dringt tiefer in den Bereich der Taubheit dieses Kindes vor. Denn Masken stellen dar, indem sie verdecken, zeigen den Tod gerade vor dem lebendigsten Gesicht. Einen Tod, wie jede Misshandlung für sich einer ist, der nie mehr verschwindet, als Fratze, als Maske, als Erinnerung, als Verdrängung. Das Kind zählt, es rechnet sich selbst ab. Dass dieser Prozess auch für die erwachsen gewordene Luisa nicht mehr zu stoppen ist, genauso wenig wie für Kafkas Josef K. sein Prozess, erzählt Nadj Abonji in einer Weise, die, wie sonst nirgendwo in heutiger deutschsprachiger Literatur, diesen Kafka-Vergleich in aller Konsequenz nahelegt.

 

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 3. 00. Von Siegfried Stadler

Es lauscht ganz Sasathü

 

Als die Schweizerin Melinda Nadj Abonji ihren Talentbeweis vortrug, wurde es im gläsernen Pavillon inmitten des tosenden Messegetriebes so still wie in Luisas Kinderseele, die der Text beschrieb. Beim Gang durch die Ausstellungshallen konnte man unvermittelt immer wieder auf solche Inseln der Literatur geraten.

 

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Berner Zeitung, 23. 6. 04. Von Bernhard Ott

"Ich lege gerne Minen in den Text"

 

(...) "Ich lasse mich immer wieder durch Sprache verunsichern." Das erste Schuljahr war für das junge Mädchen, das bei der Grossmutter in der Vojvodina aufwuchs, auch das erste Jahr in der Schweiz. Mit der Pflegefamilie, bei der sie zuerst lebte, gab es gar keine Unterhaltung. "Sie sprachen nur Deutsch und ich nur Ungarisch." So hatte sie gelernt, den Leuten aufs Maul zu schauen, der Sprache auf den Grund zu gehen. Der Ausweg aus der Verunsicherung hiess Genauigkeit. Auch in der Wahl der Bilder. "Jede Geschichte hat ihre eigene Sprache", erklärt Melinda Nadj Abonji. Später, im Literaturstudium, traf sie auf den Begriff der "Erzählstimme", der sie nicht mehr losliess. Aus dem theoretischen Begriff wurde eine existentielle Vokabel. "Ich fragte mich: Was heisst denn für mich Erzählstimme? Wie kann ich Texte vortragen, die den Leuten etwas bringen?" So ist aus der Fremdheit nicht Resignation oder Hass geworden, sondern Sprache. Eine einfache Sprache, die es einem aber nicht einfach macht. "Herr Zamboni hielt ihr den Spiegel hinten an den Hals und fragte, was ist das. Luisa schaute sich die Frisur an und sagte, es ist schön, mein Kopf ist wie ein Ball. Herr Zamboni zeigte auf die roten Streifen am Hals." Die Sprache des Romans Im Schaufenster im Frühling hat nur scheinbar etwas Kindliches. "Ich lege gerne Minen in Texte", sagt Melinda Nadj Abonji. Der Zündstoff dazu stammt häufig aus dem Bilderschatz der ungarischen Sprache. Was hat es mit den Streifen auf sich? Wer den Coiffeur des Missbrauchs verdächtigt, bringt bereits eine eigene Deutung vor. "Das Konfrontative an meinen Texten ist, dass sie keine Antworten liefern." Mit der beinahe kühlen Sprache wird eine Spannung provoziert, welche die Lesenden auflösen müssen. Ihre Texte versteht die Autorin als "Aufruf zur Feinheit, zur Genauigkeit". Nur wer beim Lesen seine eigenen Bilder hinterfragt, wird offen für die Vielschichtigkeit des Textes. Freunde hätten ihr gesagt, ihr Roman sei nicht eigentlich in deutscher Sprache verfasst. Da sei eine andere Art des Schreibens, ein anderer Klang. "Für mich war das ein Kompliment. Ein Kompliment für meine Eigenwilligkeit", sagt Melinda Nadj Abonji.

 

 

Tages-Anzeiger, 22. 6. 04. Von Philipp Gut

Die treffende Stimme für das Ungesagte

 

(...) Von zentraler Bedeutung ist für sie die menschliche Stimme: "Sie ist das A und O meines Schreibens wie der Musik." Eine musikalische Sprache, das heisst, "Tonalität, Rhythmus, Bewegung". Nadj Abonji lebte bis zum Schulalter bei ihrer Grossmutter in der Vojvodina, dem ungarischen Teil Serbiens. Sie ist überzeugt, dass die osteuropäische Musik, die sie dort "früh aufgenommen" hat, ihr Schreiben beeinflusst. Die ungeraden Takte, der treibende Impuls nach vorn – dies findet sich in den Erzähltexten wieder, die sie in verschiedenen Anthologien veröffentlicht hat. Die "Möglichkeiten des Geschriebenen" seien indes beschränkt: "Es ist eine Tragödie, dass es im Deutschen zu wenige Satzzeichen gibt." Erst im Vortrag kann die Autorin dem Text die nötige Differenzierung geben, indem sie beispielsweise über einen Punkt hinwegliest oder ihn als Zäsur interpretiert. Ihr waches Ohr verdankt sich wohl auch dem Umstand, dass Nadj Abonjis Muttersprache das Ungarische ist. Als sie zu ihren seit 1968 in der Schweiz lebenden Eltern nachzog, löste dies zunächst eine sprachliche Irritation aus. (...) Diese anfängliche Verunsicherung konnte sie später als Chance nutzen: Da nicht alles von vornherein "klar" schien, entdeckte sie die "Experimentiermöglichkeiten" der Sprache. Trotz ihres hoch entwickelten formalen Bewusstseins beschäftigt sich Melinda Nadj Abonji in ihren Texten mit "gesellschaftlich relevanten Themen". Dabei weiss die studierte Germanistin ganz genau, dass die Kunst darin besteht, das Explizite des politischen Diskurses zu vermeiden. So wäre es zwar nicht falsch, ihren Debütroman als die Geschichte einer Misshandlung zu bezeichnen. Davon aber ist im Roman selber nirgends die Rede. Wenn er uns trifft, dann deshalb, weil er so vieles offen lässt. Auch für das Ungesagte gilt es, die treffende Stimme zu finden.

 

Spontane Reaktion von Helmut Neundlinger, Schriftsteller, Wien, 2004

 

Am Grund des Textes liegt die Gewalt, wird aber aus gutem Grund nicht explizit (dargestellt). Das scheint mir wichtig, da sich in diesem dialektischen Verhältnis seine Methode und seine Gestalt abzeichnen. Das Erzählen selbst problematisiert von Anfang an die Darstellbarkeit, die Glaub-Würdigkeit von innerem Erleben, das sich eine darstellende Form sucht. Würde es jene eines objektiven Berichtes annehmen, müsste es sich permanent an einer Frage messen lassen: "Ist es wirklich so gewesen?" Die Spurensuche würde sich in eine Gerichtsverhandlung verwandeln, die Sprache der Erzählung in eine reine Opfersprache, die sich immer proportional zur Tätersprache verhalten könnte. Das macht diese Erzählung nicht. Sie setzt sich immer wieder mit den sozio-psychologischen Mustern der Befragung auseinander, lässt sie aber gegen das subjektive Erleben laufen, und dadurch geraten diese Muster ins Schwanken. Immer wieder setzt eine Stimme an, sich darüber zu versichern, dass "1977 war". Spike Lee hat in dem Film "Summer of Sam" versucht, das Jahr 1977 in einem bizarren Panoptikum der Hitze und der Gewalt zu erzählen; es gelingt in dem Masse, in dem sich die Erzählung in ein vielstimmiges Chaos auflöst, in dem sich das Erleben des Einzelnen sich selbst gegenüber fremd wird. Nichts ist mehr so, wie es war, und die einzige Versicherung, die bleibt, ist der objektive Tatbestand einer Jahrhunderthitze, der man sämtliche individuelle und kollektive Entgleisungen zuschreiben wird. Melindas Erzählung sucht zu Beginn in diesem "1977" ebenfalls ein atmosphärisches Aufleuchten, an das ein objektiver, chronologischer Bericht anschliessen könnte. Aber die Formel muss leer bleiben, weil sie keine Signifikanz dem inneren Erleben gegenüber in sich trägt. "1977" zerfällt, ähnlich wie in Spike Lees Film, in unauflösliche, sich auflösende Bilder. Man kann sich den dramaturgischen Rahmen des Textes auch anders vorstellen: Da sitzt jemand mit seinem Fotoalbum auf den Knien in seinem Zimmer und versucht einem Besucher seine Lebensgeschichte an den Bildern entlang zu erzählen, die sich in dem Album finden. Jedes Bild löst in seiner Ausschnitthaftigkeit, seiner mutwilligen Verdichtung eine Flut von weiteren Bildern aus, die sich in der Erinnerung rund um dieses eine abgelagert haben. Es wird in dem Text immer wieder um einen Ikonoklasmus gehen, einen Bildersturm, angerichtet meistens durch ein verzehrendes Feuer. Es ist so, als würden diese nicht "geschossenen", die sich im inneren Erleben gespeichert haben, gegen jene scheinobjektiven, offiziellen Bilder Sturm laufen, als würden sie zu einer vernichtenden Kritik ausholen. Das, was darunter liegt, was sich unter den "Streifen" verbirgt, verzehrt sich selbst und alles rund um sich gleich mit, wenn es sich "darstellen" soll. Valérie tritt vor Gericht mit der selbstzerstörerischen Furchtlosigkeit eines Outlaws auf. Wenn sie ihre Geschichte in der Sprache des nüchternen Berichtes erzählt, dann glaubt man ihr nicht. Luisa selbst zerschnipselt die offiziellen Bilder von Frank und seiner Frau. Dem performativen Ikonoklasmus korrespondiert eine poetische Stille, in der der Text seine eigene Spurensuche aufnimmt. Es sind dies in der Hauptsache Standbilder erzählerischer Aufmerksamkeit, die das Erzählen einer reinen Negativität entreissen. "Ein paar Zeitschriften rutschten auf dem Rücksitz hin und her, als sie gegen zehn Uhr stadtauswärts fuhren", heisst es z.B. auf Seite 25. In solchen Sätzen verdichtet sich das Erleben zu einer kunstvollen Klarheit, die gleichzeitig nichts an Empfindlichkeit, an Verletzlichkeit einbüsst. Alles in dieser Szene bleibt sich selbst erhalten, Luisa, Frank, ihre Beziehung zueinander, und doch entsteht die Szene neu an dieser Perspektive. Das ist für mich auch ein bisschen das Geheimnis an Melindas Erzählkunst.