Klaus Kastberger: Einleitung Lesung Melinda Nadj Abonji: O-Töne Wien 14.7.2011

 

In der Literaturzeitschrift „Volltext“, die sie alle kennen sollten, weil diese Zeitung die O-Töne hier mitveranstaltet, in jenem Volltext also ist vor cirka einem Jahr ein Kommentar von Daniela Strigl erschienen. In dem Artikel wurde darauf hingewiesen, dass aufgrund der Besetzung der Jury mit ausschließlich bundesdeutschen Kritikern und Autoren und aufgrund der Verflechtungen des Deutschen Buchpreises mit den großen bundesdeutschen Verlagen Bücher aus kleineren Verlagen und zumal aus Österreich und der Schweiz beim Deutschen Buchpreis kaum eine Chance hätten.

 

Der Kommentar aus dem Volltext wurde von denen, die er angegangen ist, offenbar schon gelesen, bevor er richtig geschrieben wurde. Nur so ist zu erklären, dass noch bevor die entsprechende Nummer des Volltext dann tatsächlich ausgeliefert war, die Deutsche Buchpreisträgerin des Jahres 2010 bekannt gegeben wurde. Eine Autorin, deren Stellung peripherer nicht sein hätte können: Kein großer deutscher Verlag steht hinter ihr, und auch in ihrer Biografie, die sich in dem Buch in direkter Weise nach- und abbildet, repräsentiert sich ein doppeltes Randgebiet.

 

Melinda Nadj Abonji also ist als Teil der ungarischsprachigen Minderheit in der Vojvodina geboren und hat dort ihre ersten Lebensjahre verbracht. In der Schweiz, wohin ihre Eltern und später auch sie selbst emigriert ist, hat man sie der Einfachheit halber meist als Serbin angesehen und später, als der Jugoslawien-Krieg eskalierte, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nach der vermeintlich serbischen Einschätzung der Lage gefragt. Erschienen ist Nadj Abonjis Buch, das neben dem Deutschen Buchpreis dann gleich auch den Schweizer Buchpreis bekam, bei JungundJung in Salzburg. Und dass jenes Buch nicht auch noch den österreichischen Buchpreis bekommen hat, verdankt sich einzig der Tatsache, dass noch niemand auf die Idee kam, einen solchen Preis ins Leben zu rufen..

 

Aber ich will es kurz machen: „Tauben fliegen auf“ ist ein wirklicher Glücksfall der Literatur und wurde mehr oder weniger flächendeckend (und das ist doch einigermaßen erstaunlich) auch als ein solcher rezipiert. Von der Neuen Zürcher Zeitung bis hin zur F.A.Z, von der Welt bis zur Süddeutschen, und von der Taz bis zur Frankfurter Rundschau waren sich alle einig, die sonst so gerne unterschiedlicher Meinung sind: Hier liegt ein Buch vor, dass es gebraucht hat, nicht allein, weil es das Thema Jugoslawien in einer ganz und gar ungeschwätzigen Weise behandelt, sondern vor allem auch, weil dieses Buch, dass ja zuvorderst gar kein Jugoslawien-Buch ist, sondern eines über die Immigration in der Schweiz, Jugoslawien in seinem Herzen trägt. Heute, wo in so vielen Bücher gerade der jungen Autorengeneration kaum noch etwas geschmeckt oder gerochen wird, ist es nötig, darauf etwas extra hinzuweisen: Bei Melinda Nadj Abonji hat sowohl die Vergangenheit auf dem Balkan als auch die Gegenwart in der Schweiz ganz spezifische Gerüche, und oft nimmt die Geschichte an den Gerüchen, die durchaus auch ekelerregend sein können, dann auch ihre entscheidenden Wendungen.

 

Ihre eigene Lebensgeschichte, die die Autorin in ihrem Buch so unverstellt erzählt, ist exotisch in einem doppelten Sinn. Denn exotischer noch als der Balkan erscheint in „Tauben fliegen auf“ oft die Schweiz, in der Art und Weise etwa, wie dieses Land mit seinen Fremden umgeht in einer Mischung aus restriktiv angewandter Basisdemokratie und dem guten Willen einzelner, ja vieler, was für die allerdings, die dieser ganze gute Wille trifft, auch schon einmal zu einer Bürde werden kann. Ganz so, als ob aus Nadj Abonjis Buch post festum der gerade frisch ernannte österreichische Staatssekretär für Integration sprechen würde, erhebt sich in dem Buch an die Immigranten eine Forderung, die auf den Punkt bringt, was die Schweiz von den Zuwanderern will: Leistung, und zwar vornehmlich wirtschaftliche. Wer sich indes für den breiten Raum interessiert, der zwischen der wirtschaftlichen Leistung und wahrhafter Integration liegt, ist gut beraten, sich das Buch etwas genauer anzusehen.

 

Nach außen hin, aber die wirtschaftliche Leistung ist ja immer nach außen hin, erbringt die Familie, um die es bei Nadj Abonji geht, ihre Leistung in mustergültiger Weise. Für die Eltern, die sich von ganz unten hinaufgearbeitet haben, war es dahin ein langer und mühsamer Weg. Ildiko indes, die Tochter und Hauptfigur des Buches, sieht das als Familienbetrieb geführte Kaffeehaus doch schon sehr anders, denn hinter dem wirtschaftlichen Erfolg stecken augenscheinlich andere und viel größere Leistungen, auf die (nicht allein Integrationsstaatssekretäre) erst einmal kommen müssten: Verdrängungs- und Anpassungsleistungen nämlich, die für die Eltern kein Thema sind, sondern schlichtweg die Voraussetzung bilden für eine Existenz im fremden Land.

 

Zwischen den Eltern, Ildiko und ihrer jüngeren Schwester Nomi tun sich in dem Buch Differenzen auf, die weniger vom Gestus jugendlicher Revolte, sondern von einem durchaus zärtlichem gegenseitigen Verständnis geprägt sind. Auch das Sprechen über Jugoslawien, das wahrscheinlich gerade aus diesem Grund hier in diesem Buch so authentisch und glaubhaft wirkt, ist in jenen Raum eingepasst, vorgegeben ist sein Duktus durch die Schweizer Umgebung. Um es etwas überspitzt auszudrücken, erscheinen die Eltern in Nadj Abonjis Buch wie pure Oberflächen in einem funktionellen Zusammenhang, während man der Tochter bis ins Herz zu schauen glaubt. Jugoslawien, in dem sie nur wenige Kinderjahre verbracht hat, lässt sie in intensivster Weise an sich heran, auf den vielen Fahrten beispielsweise, die mit unterschiedlichen und dabei stets irgendwie unpassenden Fahrzeigen zu den in der Heimat verbliebenen Verwandten unternommen werden. Bei jener Trennung der Welten indes, die die Eltern nach außen hin so erfolgreich praktizieren, spielt Ildiko nicht mit, denn ihr Jugoslawien, das ein Jugoslawien eben auch des Krieges und der Vernichtung ist, trägt sie in sich auch dann, wenn sie längst wieder zuhause in der Schweiz ist.

 

Eine große und geradezu leitmotivische Rolle spielen in dem Buch „Tauben fliegen auf“ sowohl die Vögel, die im Titel genannt werden, als auch der Vorgang, in den die Tiere gestellt sind, nämlich das Auffliegen, das wie ein Erwachen zur Selbständigkeit ist. Zweckmäßig wäre es, sich in Vorbereitung der jetzt nachfolgenden Lesung jene Tauben nicht unbedingt in ihrer Wiener Variante vorzustellen. Bei Nadj Abonji nämlich sind die Tauben keine Plage, und sie erscheinen fast immer am richtigen Ort. In der Vojvodina landen sie in einer Suppe, bei deren Vorstellung allein es den Schweizer Gourmets den Magen umdreht, und in der Schweiz fliegen sie auf wie Friedenstauben, die man sich aber eigentlich lieber für Jugoslawien gewünscht hätte.

 

Dass das Buch von Melinda Nadj Abonji mittlerweile selbst zu einer schönen Taube geworden ist, und zwar zu einer sehr dauerhaften, zeigt sich in der Tatsache, dass es auch heute noch, und damit gut ein Jahr nach dem Buchpreis-Hype, für derartiges Interesse sorgt. Innerhalb des kurzatmigen literarischen Betriebes, der mittlerweile längst schon bei neuen Siegerinnen ist, kommt das der nächsten Sensation gleich. Zu ihr und dem wunderbaren Buch, aus dem wir jetzt hören werden, darf ich ihm (dem Betrieb) und damit uns allen und nicht zuletzt auch der Autorin selbst herzlich gratulieren. Frau Nadj Abonji ich freue mich sehr!