Einleitung von Katja Gasser anlässlich der Lesung im Stifter-Haus in Linz, Österreich, am 14. Februar 2011

 

‚Wie wenig es doch braucht, und man ist ganz verloren in der Welt’ (Zitat aus: ‚Tauben fliegen auf’)
Eine Annäherung an die Autorin Melinda Nadj Abonji

 

Der Moment, in dem die Deutsche Buchpreisträgerin 2010 bekannt gegeben wurde in Frankfurt im Rahmen der Buchmesse, war ein besonderer: ein besonderer insofern, als die Gewinnerin Melinda Nadj Abonji hieß, eine bis dato weitgehend unbekannte Autorin, deren Roman ‚Tauben fliegen auf’ noch dazu in einem kleinen österreichischen Verlag, nämlich dem renommierten Jung-und-Jung-Verlag erschienen war. Es war ein besonderer Moment auch insofern, als die wenigsten der Deutschen Buchpreis-Jury zugetraut hätten, eine wirklich mutige Entscheidung zu treffen: zu diesen gehörte ich und ich wurde, zu meiner großen Freude, überrascht.

Mit Melinda Nadj Abonji - laut Eigendefinition ungarische Serbin aus der Vojvodina, die in der Schweiz lebt, in erster Linie aber Musikerin und Schriftstellerin – mit dieser Autorin jedenfalls wurde eine mutige Wahl getroffen. Mutig nicht zuletzt deshalb, weil damit eine auch biographisch und geographisch bedingte Außenseiterin ins Zentrum der deutschsprachigen Öffentlichkeit gerückt wurde. Mutig insofern, als sich Melinda Nadj Abonji in ihrem autobiographisch grundierten Roman ‚Tauben fliegen auf’ auf eine gänzlich unprätentiöse, dafür umso überzeugendere Weise einer Thematik annimmt, die gegenwärtig ein großes Politikum ist, oberflächlich gesehen also viele beschäftigt und die Gemüter vieler erhitzt: es ist das große Thema Migration/Integration – ein Thema, das in ‚Tauben fliegen auf’ in poetisch-präzise, feingliedrig-realistische Prosa verwandelt wird, an der die großen politischen Phrasen, die man aus diesen Zusammenhängen kennt, zerschellen: erzählt wird die Geschichte einer Familie aus der Vojvodina, die in der Schweiz Zuflucht sucht vor allem möglichen, unter anderem dem kommunistischen System – jedenfalls aber ein neues, besseres Leben und dabei auf eigene und die Grenzen anderer stößt. Es ist die Perspektive der ‚Betroffenen’, die in diesem Roman zur Geltung kommt, es sprechen in diesem Roman jene, über die in der Regel gesprochen wird. Es ist, als ob jemand in den hysterischen, zumeist undifferenziert geführten, mit Ressentiments aller Art angereicherten Migrations- und Integrations-Diskurs ein entschiedenes ‚Stopp! Noch einmal von Anfang an’ setzen würde: die Aufforderung also, genau hinzuhören, genau hinzuschauen, um zu verstehen, worum es hier eigentlich überhaupt geht, um zu verstehen, dass es sich hierbei um Menschen handelt, um Menschen, die eine Geschichte haben, die sich nicht auslöschen lässt – wie sich überhaupt Geschichte, ob subjektive oder objektive, nicht aus unserer Gegenwart wegdenken lässt, vielmehr diese beständig mitschreibt – diese Überzeugung durchzieht Melinda Nadj Abonjis Werk wie sie auch ihre Figuren bestimmt; gemeinsam mit der Einsicht, dass es nur wenig braucht, ‚und man ist ganz verloren in der Welt’ und das heißt: der Boden, auf dem wir alle uns bewegen, ist ein brüchiger, ein von vielen Zufällen und Glücksfällen zusammengehaltener, ein Boden ohne Gewähr mithin, der Sicherheit nur als Fiktion erlaubt.

In den Bereich der Sicherheits-Fiktion gehört auch die Sprache:‚Ich bin eine Spracharbeiterin’, hat Melinda Nadj Abonji in einem Interview gesagt – und das bedeutet auch und nicht zuletzt: Deutlichmachen von falschen Zusammenhängen, die Welt und damit die Sprache immer wieder aufs Neue auseinander legen und neu zusammenfügen und damit beweglich halten. Schreiben gegen falsche Zusammenhänge inkludiert das Anschreiben gegen Ideologien, die ohne falsche, weil erstarrte Zusammenhänge nicht auskommen. Literatur, wie sie von Melinda Nadj Aobnji geschrieben wird, ist antiideologisch in ihrem Kern, sprachkritisch und sprachgläubig zugleich: in ihrem Zentrum steht der Mensch mit all seinen Widersprüchen, Sehnsüchten und Abgründen, mit all seinen Bedingtheiten und Unbedingtheiten, mit all seiner Sprachlosigkeit und Sprachbegnadetheit, seinem Freiheitsstreben und zugleich Unvermögen, mit so etwas wie Freiheit umzugehen. In ‚Tauben fliegen auf’ heißt es an einer Stelle: ‚Aber wer hat eigentlich gesagt, dass man Politik braucht? Genügt das einfache Leben nicht?’.

Die Figuren, die Melinda Nadj Aobnjis Literatur bevölkern, stammen aus einer Schicht, die in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur wenig Beachtung findet: es ist die so genannte ‚Unterschicht’, die so genannte ‚Arbeiterklasse’, die es angeblich nicht mehr gibt. Aus dieser wenig privilegierten Position aus, bedeutet Krieg unter anderem‚ dass ‚die einen gehen und die anderen bleiben’ – ein Satz, der sich in Melinda Nadj Abonjis literarischem Debüt ‚Im Schaufenster im Frühling’ findet und der impliziert: dass die fundamentale Ungerechtigkeit schon allein darin besteht, dass es einigen gelingt, dem Leben, in das sie geboren wurden, zu entkommen und anderen nicht. Aber dieser Satz über den Krieg aus ‚Im Schaufenster im Frühling’ weist weit über diese gesellschaftspolitisch motivierte, mögliche Lesart hinaus ins ‚schichtübergreifend’ grundlegend Existenzielle: man entkommt sich und seiner kleinen Gefühlswelt nicht, zumindest nicht leicht, manchen gelingt es, streckenweise und partiell, den meisten wohl selten oder gar nicht. All das, viele Fragen und mehr trägt dieser Satz Melinda Nadj Abonjis in sich – es ist die Vielschichtigkeit ihrer Literatur, die sich mit schlichtesten literarischen Mitteln einer eindeutigen Lesart und Behauptungen von Eigentlichkeit widersetzt, die die Qualität dieser Prosa ausmacht. Jeder Satz darin scheint verbürgt durch die Erfahrung, dass sie, die Sprache, über Leben und Tod entscheiden kann, darüber, ob man mitspielen kann und darf oder nicht. Allein Schmuck ist hier nichts, als Dekor eignet sich diese Literatur nicht.

Lassen Sie mich meine Annäherung an diese Autorin abschließend noch zum Anfang meiner Ausführungen zurückkehren: Was Melinda Nadj Abonjis Literatur unter anderem auszeichnet: sie spricht, indem aus ihr eine entschiedene Parteinahme für die Schwächsten in unserer Gesellschaft hervorgeht, für uns alle – schließlich, Sie erinnern sich: ‚wie wenig es doch braucht und man ist ganz verloren in der Welt.’