Fremderregung

Warum soll man sich damit abmühen, mit Geschichte, mit unzähligen Geschichten, die irgendwo in Archiven lagern, als Kleinschriften - Flugblätter, Pamphlete - Zeitungsartikel und Tagebücher von Menschen, die auf unterschiedliche Art gedacht haben müssen, es sei wesentlich, dass man den Tagen eine schriftliche Existenz verleiht, kilometerlange Mikrofilme, die sich einspannen lassen, das schwindelerregende Surren, mit dem die Tage, Wochen an einem vorbeiziehen; warum sollte man sich um längst vergangene Tage kümmern, um Menschen, deren Hoffnungen und Sorgen (oder müsste ich jetzt von «Kümmernissen» sprechen?) vergessen, begraben sind? Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist wesentlich für die Gegenwart, so meine Antwort, das Wesen unserer Zeit ist erst mit dem Blick, mit dem Eintauchen in vergangene Welten möglich. Ein verschwommenes Sehen, vielleicht ist das die Quintessenz des Quellenstudiums, man sieht und sieht nicht; man versteht und versteht nicht. Die Worte werden in eine schier unerträgliche Zeitlichkeit entlassen und bereits hundert Jahre reichen aus, um zumindest eine gesicherte Erkenntnis zu bergen, dass die Worte und deren Syntax im Fluss sind, weil die Menschen sie brauchen, aufbrauchen, sie verbiegen, anbeten und wegwerfen, vergessen, Worte, die unnütz werden, weil die dazugehörige Sache nicht mehr existiert oder sich verändert. (Von einer «lichtscheuen Gestalt» beispielsweise habe ich noch nie jemanden sprechen hören, ein Ausdruck, der vor hundert Jahren selbstverständlich war für einen unredlichen, verbrecherischen Menschen; dass dieser Ausdruck nicht mehr geläufig ist, hat sicher auch damit zu tun, dass der öffentliche Raum heute viel stärker ausgeleuchtet ist und dadurch die Metapher weniger Sinn macht als früher).

Ob der Sinn der Literatur darin bestünde, die Vergangenheit zu bewahren, wurde W. G. Sebald in einem Interview gefragt. Ja, so Sebalds Antwort, zumal die Gesellschaft dazu tendiere, die Vergangenheit auszulöschen, sie hindere einen ja am Fortschritt.

«Lohndrücker»
Die heute noch wirksame Ideologie der (jeweiligen) nationalen Identitäten erfährt während des ersten Weltkrieges ihre aufpeitschende, tödliche Wirksamkeit, und das sprachliche Material der Quellen ist vom «europäischen Krieg», wie er 1914 zunächst heisst, vom Krieg der Nationen angegriffen, durchtränkt. Dass die positive Ideologie der (eigenen) Nation die negative Ideologie gegenüber dem Feind bedingt, mag für einen Krieg folgerichtig erscheinen. Die aussenpolitische Neutralität der Schweiz verbietet aber zum einen, mögliche «Feinde» zu benennen, zum anderen - und das ist fast noch dringlicher - die Parteinahme für eine der kriegführenden Nationen, da sie den innenpolitischen Zusammenhalt der Schweiz als solches, in deren Verfassung die kulturelle Vielfalt festgeschrieben ist, gefährden würde. Die Bemühung des Bundesrates und der massgeblichen Zeitungen, die nationale Ideologie auf eine positive Neutralität zu spuren, erfordert einigen Aufwand; der schwerwiegende Konflikt - das mögliche Auseinanderdriften der deutschen und französischen Schweiz - findet im Ausbruch des ersten Weltkrieges seinen Anfang und ist heute noch virulent.

Jeder Rekurs auf eine so genannte nationale Identität bringt Feindseligkeiten, Feindschaften hervor, auch wenn man sie auf «Neutralität» und «Vielfalt» zu gründen versucht, so meine Überzeugung. Die klare Trennung von Freund und Feind, von Eigenem und Fremden, wird trotz allem vollzogen, da, wo man es zunächst vielleicht nicht vermuten würde. Dazu folgendes Beispiel:

In der Zürcher «Stadthalle» versammeln sich an einem frühen Sonntag im August 1914 hundertfünfzig Arbeiter - ein anonymes Inserat im Tagblatt hatte dazu aufgerufen - und es ist anzunehmen, dass die Gemüter erhitzt sind, manch einer wird sogar die Faust aus dem Sack nehmen, sie drohend erheben, weil in der gegenwärtigen Krise «der Schweizerarbeiter» wieder mehr zur Geltung kommen müsse, ja die Schweizerarbeiter müssten sich dafür wehren, damit sie in erster Linie eingestellt würden und nicht, wie es gegenwärtig der Fall sei, «die Ausländer»; auch die Stillen, Zurückhaltenden wissen, wer mit den Ausländern gemeint ist, im Verlauf der Versammlung wird man sie nicht beim Namen nennen, aber mehrfach auf ihre Nationalität hinweisen, und Herr Aeberli, der «Schriftführer», hält fest, dass es «die Italiener» sind, die billigen Italiener, «welche die Bauunternehmer immer aus entlegeneren Vierteln Italiens kommen lassen», und dadurch habe der hiesige Arbeiter in diesem Gewerbe kein Auskommen mehr; von «italienischen Polieren» würde man sogar ausgelacht, wenn man bei einem Bauplatz nach Arbeit frage, so erzählt einer der Anwesenden aufgebracht, selbst an «kommunalen Bauten» würden italienische Arbeiter beschäftigt - bei den Arbeitern «aus anderen Ländern» handle es sich wenigstens nicht um «Lohndrücker».

Die Wut der versammelten Männer richtet sich also durchaus auch gegen die Arbeitgeber und die Behörden, sogar selbstkritische Voten fallen: einen Teil der Schuld trügen «die Schweizerarbeiter» selber, weil sie «der Organisation vielfach fernstehen oder sich sogar dazu hergeben, das Unternehmertum in der Gründung von Sonderorganisationen zu unterstützen». Aller Selbstkritik zum Trotz: Am Ende der Versammlung scheint klar zu sein, was zu tun ist, ein Antrag, wonach die Arbeiterunion bei den Behörden vorstellig werden soll, in erster Linie «Schweizerbürger» zu beschäftigen, wird einstimmig angenommen.

Die Arbeiter, die sich am 16. August 1914 in der Stadthalle versammeln, erzählen auf sprechende Weise, wie sie sich im Diskurs des spezifisch schweizerischen Nationalgefühls verhalten. Sie verstehen sich - auch wenn während der Versammlung immer wieder vom «Schweizerarbeiter» die Rede ist - als «Schweizerbürger». Diesem positiven Selbstverständnis steht zwar der ausländische Arbeiter gegenüber, die ausgesprochene Feindlichkeit richtet sich aber nur gegen den italienischen Arbeiter, den «Lohndrücker». Die Zugehörigkeit zur Nation, zur Schweiz, scheint den Versammelten also wichtiger zu sein, als ihre Zugehörigkeit zur (internationalen) Arbeiterklasse - der positiv besetzte Begriff Schweizerbürger soll ihrem Anliegen Gehör verschaffen. Die Klassengegensätze, die 1918 im Generalstreik aufeinanderprallen werden, sind hier im Begriff des Schweizerbürgers (noch) neutralisiert. Dieses Beispiel zeigt deutlich, was auch später, vor allem in den 60er Jahren - unter veränderten Vorzeichen - immer wieder zutage tritt, dass nämlich weite Teile der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften für den fremdenfeindlichen Diskurs mitverantwortlich sind; zwar formulieren «die Genossen» bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass der Krieg nicht nur Klassenkampf von oben nach aussen sei, sondern auch von oben gegen das eigene Volk, aber zum eigenen Volk zählen sie weder die Ausländer noch die Frauen.

Die Gemeinschaft, das Gemeinschaftsgefühl, das sich so stolz dem Zufall der Geburt innerhalb nationaler Grenzen hingibt, dabei die Ausländer, das Fremde ausgrenzt, ist eine der wirkungsvollsten ideologischen Lügen, ganz gleich, von welcher politischen Couleur sie getragen wird. Die Lüge beruht auf dem Rekurs auf das Identische, das Gleiche, die nationale Identität. «Identitas» ist eine Ableitung aus dem lateinischen Abstraktum «idem», was «derselbe» heisst. Aber nichts ist genau gleich. Kein einziger Mensch ist so wie der andere.

Abfahren
Anfang August 1914 spielen sich am Zürcher Hauptbahnhof tumultartige Szenen ab. Die zur Spedition bestimmten Gegenstände häufen sich turmhoch; «die Fremden», die in der Schweiz «zum Ferienaufenthalte weilten», drängen zu den Zügen; deren Koffer werden bis auf weiteres in «Eilgutschuppen» verwahrt, da an deren Weiterspedition nicht mehr zu denken sei, heisst es im Abendblatt der NZZ vom 3. August; selbst zu Zeiten höchster Touristensaison hätten sie nichts Ähnliches erlebt, erklären die Bahnangestellten; viele deutsche Reservisten reisen plötzlich ab; aus Deutschland, Luxemburg, Frankreich, Belgien usw. treffen italienische Arbeiter und ihre Familien mit ihren Habseligkeiten ein, müde, abgekämpft, hungrig, und versuchen womöglich beim italienischen Generalkonsulat ein Rückreise-Billett zu ergattern.

Am Bahnhof zeigen sich die ersten Auswirkungen des Krieges rasch und deutlich: die Fremden und die Einheimischen werden voneinander geschieden. Die Fremden reisen zurück, in «ihre Nation», die einheimischen Männer werden an die Grenze verfrachtet, um «das Vaterland» zu verteidigen. Nirgendwo wird deutlicher, dass die wahnhafte Umsetzung einer Ideologie im (chaotischen) Gange ist, die Ideologie der nationalen Identität; «das Fremde» wird im Umfeld dieser nationalstaatlichen Kriege mit einer neuen Vehemenz innenpolitisch bekämpft, das heisst die Feindseligkeit differenziert sich im Innern vielfältig. So erlässt die kantonale Direktion des Gesundheitswesens bereits Mitte August 1914 eine Verfügung, den gesundheitlichen Zustand «der Fremden», der «seuchenverdächtigen Personen» zu überwachen. Folgende Krankheiten könnten eingeschleppt werden: Pocken, Typhus, Cholera, Fleckfieber und Pest. Die örtlichen Gesundheitsbehörden hätten sich unter anderem täglich eine Liste der in Gasthöfen usw. «zugereisten Landesfremden» zustellen zu lassen und deren Überwachung durch einen amtlichen oder privaten Arzt während 12 Tagen anzuordnen. Gegen Personen, die sich nicht stellen, wird Strafklage eingereicht.

Offenbar rechnet die kantonale Gesundheitsbehörde nicht mit «Seuchen», die aus dem Ausland zurückkehrende Schweizer einschleppen könnten; ausschliesslich der «zugereiste Landesfremde» soll untersucht werden, sein Körper ist ein fremder Körper, ein Träger möglicher Krankheiten; dass «der Fremdkörper» per definitionem zu einem eindeutigen Eindringling in einer Gemeinschaft werden konnte, hat sicher mit der (populistischen) Politisierung von Begriffen aus dem medizinischen und biologischen Umfeld zu tun (jüngstes Beispiel: Dichtestress). Der Fremdkörper, ein Begriff aus der Immunologie (die im Laufe des 20. Jahrhunderts eine beispiellose Karriere erlebt), wird benutzt, um die Körper von Fremden, Ausländern als Bedrohung zu stilisieren - der unbekannte Körper, der alle mögliche Krankheiten einschleppt.

Noch während des ersten Weltkrieges, im Jahre 1917, wird die «Eidgenössische Fremdenpolizei» ins Leben gerufen, die sich in der Folge zum wichtigen staatlichen Instrument im Kampf gegen vermeintliche Überfremdung entwickelt - Überfremdung, ein Neologismus des beginnenden 20. Jahrhunderts, der bis auf den heutigen Tag die fremdenfeindlichen Diskurse in unterschiedlicher Manier unterfüttert.

Übernational
Bekanntlich haben nicht alle Zeitgenossen den Ausbruch des europäischen Krieges, des ersten Weltkrieges begrüsst. In einem berühmt gewordenen Artikel, der im September 1914 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint, klagt der Schriftsteller Hermann Hesse:

«(...) die anderen alle, die sonst mit mehr oder weniger Bewusstsein am übernationalen Bau der menschlichen Kultur tätig gewesen sind und jetzt plötzlich den Krieg ins Reich des Geistes hinübertragen wollen, die begehen ein Unrecht und einen groben Denkfehler. Sie haben so lange der Menschheit gedient und an das Vorhandensein einer übernationalen Menschheitsidee geglaubt, als dieser Idee kein grobes Geschehen widersprach, als es bequem und selbstverständlich war, so zu denken und zu tun. Jetzt, wo es zur Arbeit, zur Gefahr, zum Sein oder Nichtsein wird, an jener grössten aller Ideen festzuhalten, jetzt kneifen sie aus und singen den Ton, den der Nachbar gerne hört.» Es sei kein Gerücht, sondern Tatsache, dass deutsche Patente in Russland, deutsche Musik in Frankreich boykottiert würden, und in deutschen Blättern sollen künftig Werke von Engländern, Franzosen, Russen, Japanern nicht mehr übersetzt und kritisiert werden.

Hesse wird nach dem Erscheinen dieses Artikels mit dem Titel «O Freunde, nicht diese Töne» aufs Gröbste verunglimpft; es heisst, er sei ein «heimatloser Geselle, ein Verräter, ein Gesinnungslump». Weil Hesse an den «übernationalen Bau der menschlichen Kultur», an die «übernationale Menschheitsidee» (der Intellektuellen) glaubt, wird er explizit als Heimatloser und implizit als Fremder stigmatisiert; vergeblich appelliert er an das Verbindende zwischen den Menschen, an die Kunst des Übersetzens.

Kippmoment
Der in Wädenswil geborene Dichter Karl Stamm wird 1914 zum Aktivdienst eingezogen. In seiner späteren, vom Expressionismus beeinflussten Lyrik, ist in wenigen Sätzen ausformuliert, was geschehen könnte, wenn die (als legitim) erscheinende Ideologie des Feindes demaskiert, heisst durchdacht und gefühlt wird:

(...)
Des Menschen Mutter, dem die Kugel gilt -
O nimm zurück den eingebornen Sohn!
Erspare mir die Schuld und Höllenqual!
Du kannst nur weinen? Weinen lacht mir Hohn.

O Feind, mein Feind! Ich fleh aus tiefster Not:
Geliebter Feind, dass ich nicht schuldig sei;
Ermorde mich! Erlöse mein Gewissen!
So nimmst du von mir deiner Seele Schrei.

Demaskierung der Ideologie: der Feind ist kein Feind, weil ALLE dieselbe Mutter haben oder anders, wenn man auf einen Feind zielt, zielt man auf die allen gemeinsame Mutter. Die Ausweglosigkeit der Ideologie des Feindes wird umfassend spürbar, der unpersönliche Feind wird zu meinem Feind, den man töten soll; andererseits wird der von aussen zugeteilte Feind, der Feind, den man zu haben hat, zum (möglichen) geliebten Feind; die Erlösung aber bleibt aus, da es im Kontext des Feindes nur den einen oder den anderen Mord geben kann, die Schuld, wer auch immer (zuerst) getötet hat.

Und doch, in der nächsten Strophe wird eine Hoffnung formuliert:

Du zauderst? Senkst den hocherhobenen Arm?
Entflieht aus deinem Leib des Kämpfers Kraft?
Ist’s Furcht vor eigner, drohend naher Schuld?
Ruft dich die Seele auf zur Bruderschaft?

Wenn der Feind kein anderer, kein «alienus», kein Fremder mehr ist, könnte er zum Bruder werden (die Seele ruft dazu auf); der Bruder ist einer, der dem anderen nicht fremd ist, er ist ihm auch nicht gleich, im Sinne von identisch, sondern er ist ihm ähnlich. Nur unterschiedliche Menschen können einander ähnlich sein, schreibt der Autor und Philosoph Sreten Ugriĉić und die Ähnlichkeit liege im exklusiven Bereich der Vorstellungskraft. Diese Ähnlichkeit imaginiert Karl Stamm - er verzweifelt an der Wirklichkeit der Feindschaft, die den Kämpfer hervorbringt. Der Kämpfer steht dem Kämpfer gegenüber. Genau gleich, egal, für welche Nation er kämpft.

Anfänglich kriegsbegeistert erleidet Karl Stamm 1917 einen Nervenzusammenbruch und wird aus dem Militärdienst entlassen. Zwei Jahre später stirbt er an der spanischen Grippe.

Ausblick und Etymologie
Wenn man den Wahrig konsultiert, wird klar, dass fremd, das Fremde, seine möglichen Komposita und Ableitungen mehrheitlich Negatives transportieren, das 19. Jahrhundert, vor allem aber die kriegerischen Anfänge des 20. Jahrhunderts haben deutliche Spuren hinterlassen.

Vom Fremdkörper war bereits die Rede, von der Überfremdung. Dass der Tourismus den Fremdenverkehr übernommen hat, ist sicher der negativen Konnotation von fremd zu verdanken. Man könnte darüber debattieren, ob es Sinn macht, die Fremdherrschaft und die Herrschaft zu unterscheiden. Die Anrüchigkeit des Fremdgehens wäre wiederum eine Untersuchung wert: heisst fremdgehen, dass man zu einem Anderen geht und dadurch dem Ehepartner, der Ehepartnerin fremd wird? Was für eine Rolle spielt hier das Verb gehen, in Kombination mit dem Adjektiv fremd? Dass Wörter immer unterwegs sind, sich wandeln, sich verändern, verbiegen, turnen, untergehen, vor allem, dass Wörter über Grenzen hinweg gebraucht und übernommen werden, das will der Begriff Fremdwort nicht wahrhaben. Ein hübsches Wort ist die Fremderregung, die laut Wörterbuch die Erregung eines Motors aus einer anderen Spannungsquelle als den für den Ankerstrom verwendeten meint - aber wäre es nicht schön, wenn die Fremderregung die Fähigkeit bedeutete, sich für jemand anderen aufzuregen?

Zu einer wesentlichen Erkenntnis oder zumindest zu einer Überraschung führt die Etymologie des Wortes: fremd ist eine Adjektivbildung zum Germanischen «fram» (als Präposition), und bedeutet «fern von», «weg von», heute noch präsent im Englischen «from». Im Althochdeutschen bedeutet das Adverb «fram» «vorwärts», «fort». Durch die Etymologie des Wortes «fremd» wird einsehbar, dass es hauptsächlich eine Bewegung zum Ausdruck bringt; konkrete, geografische Orte können impliziert sein, aber seine Energie speist sich, wie gesagt, aus der Bewegung. Das Adjektiv «fram» bedeutet im Germanischen übrigens tapfer, vorzüglich.

Könnte man die negativen Bedeutungsstreifen im Wörtchen fremd weglassen, seine negative moralische Wertung vornehmlich des 20. Jahrhunderts (ausländisch, seltsam, ungewohnt, unvertraut), bedeutete es also lediglich «weg vom Vertrauten» und nicht «abweichend vom Vertrauten».

Wenn ich nun mit meinem kleinen Sohn durchs dunkle Schlafzimmer husche und er zu mir sagt: Komm Mami, schnell, der Stuhl sieht uns!, dann lache ich spontan, bin im zweiten Moment irritiert über die vollkommene Selbstverständlichkeit, mit der mein Kind dem Stuhl zutraut, uns zu sehen, doch drittens führt es mich ganz nahe zur Möglichkeit, dass man sich in der eigenen Wohngegend nicht mehr auskennt –, Kinder führen uns sehr ernsthaft und verspielt in einem die eigene Wohnung neu vor, in der alles beseelt erscheint, die Verben springen über, bevölkern nicht mehr nur das Reservat des Menschen: der Stuhl sieht, das Fenster schläft, der Wasserhahn weint, die Lampe lämpelt (Verben werden pausenlos generiert, um dieses komplexe Gebiet zu benennen), die Luft stellt alle Werkzeuge bereit, die fürs hingebungsvolle Spiel notwendig sind, eine imaginäre Linie auf dem Holzboden markiert die Grenze zwischen Strand und Meer etc. etc.

Natürlich, es ist eine Reise, auf die mich der kleine Mensch wieder einmal mitnimmt, die Einladung, die Dinge neu zu entdecken, sie von der Last des Vertrauten zu befreien, sich vom Vertrauten wegzubewegen - in Analogie zu jener Reise zu den Worten, Begriffen und Ereignissen, mit dem Ziel, unsere Gegenwart zu erhellen, indem unsere Selbstverständlichkeiten sich in die essentielle Relativität eines grösseren Ganzen fügen.

Veröffentlicht in: Europa. Die Zukunft der Geschichte. Cathérine Hug in Zusammenarbeit mit Robert Menasse. Verlag Neue Zürcher Zeitung. Zürich 2015.

© Melinda Nadj Abonji
Zürich, Januar 2015